Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem 
G. Stryi-Hipp, ISE Fraunhofer Institut Freiburg
Münzhof Langenargen
, 2. Juni 2023  

 

Das Wetter war wohl zu schön oder die Pfingstferien hatten zugeschlagen. Das Thema des Vortrags am 2. Juni im Münzhof Langenargen kann es nicht gewesen sein. Ein Dutzend Anwesende hörten aber dennoch Herrn Stryi-Hipp vom Fraunhofer ISE Freiburg zu, als er über das Thema berichtete „Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem: Stellschrauben und Knackpunkte für die Energiesituation und Energiesicherheit im Jahr 2045“. Herr Stryi-Hipp, Gruppenleiter klimaneutrale Städte und Quartiere am Fraunhofer ISE, übernahm damit eigentlich die Aufgabe von Dr. Kost, seinem Kollegen, der aufgrund eines Unfalls kurzfristig absagen musste. 


Mit diesem brandaktuellen Thema hatte sich die Arbeitsgruppe „Energie“ der Mittelstands- und Wirtschaftsunion der CDU/CSU im Bodenseekreis schon beschäftigt und wollte über Experten mehr und präziser erfahren, wie sich unsere energetische Zukunft gestaltet könnte (Bild 1).

Bild 1 v.l.n.r: Herr Stryi-Hipp vom ISE Fraunhofer, Mitglieder des AK Energie Dr. H. Kräwinkel, P. Jabs, P. Gotterbarm


Dazu hatte Sie Herrn Dr. Kost/Gerhard Stryi-Hipp eingeladen für einen ersten Vortrag. Noch ausstehend sind zwei Folgevorträge; am 28. Juli wird ein Vertreter der Netze BW über die zukünftige Regionalplanung Strom- und Gasnetze im Südwesten berichten, am 12. Juli das Stadtwerk-am-See zum gleichen Thema über die Planung im Bodenseeraum (genauere Ankündigungen finden sich rechtzeitig auf unserer Webseite https://www.mit-bodenseekreis.de/Veranstaltungen/Unsere-naechste-Aktion/).


Mit dem ersten Vortrag befasste sich das Fraunhofer ISE mit der Sicht auf die Bundesrepublik bis zum Zeitraum 2040/2050. Die Mitarbeiter, die auch die Bundesregierung beraten, haben dazu viele Einzelheiten zusammengetragen und ein eigenes, komplexes Simulationsprogramm damit gefüttert (Energiesystemmodell „REMod“).

Herr Stryi-Hipp erläuterte die Rand- und Optimierungskriterien der Simulation. Einerseits sind die Randbedingungen gegeben durch die internationalen und nationalen Vorgaben zur Erzielung der Klimaneutralität (Bild 2).

Bild 2 Treibhausgasemissionen und notwendige Reduktion bis 2045












Die heutige Nutzung der Endenergie (Bild 3) definiert die Startwerte des Programms. In der Unterschrift finden Sie auch eine Definition für „Endenergie“.

Bild 3 Heutige Nutzung der Endenergie (Endenergie ist von Industrie, Haushalt, Gewerbe und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft eingesetzte Energie. Dafür können Primärenergieträger genutzt werden, etwa Erdgas, oder sekundäre Energieformen, darunter elektrischer us chemischer Energie von Kohle und Kraftstoffe aus fraktionierter Destillation von Erdöl).


Fossile Primärenergie (also Kohle, Öl, und Gas) erzielt meist schlechte Wirkungsgrade (im Verkehr von ca. nur 20%, im Kohlekraftwerk ca.35 - 45%, der Rest geht ohne Nutzen durch Wärme verloren).  Mit Photovoltaik und Windkraftanlagen wird dagegen der Strom direkt erzeugt, so dass keine Umwandlungsverluste vorhanden sind. Wird also Strom alternativ erzeugt und wird in der Endnutzung der Strom (z.B. durch Wärmepumpen) direkt verwendet, sinkt automatisch der Anteil notwendiger Primärenergie und damit der ausgestoßene CO2-Anteil.
Wie komplex eine solche Simulation ist, zeigt Bild 4, in dem im linken Teil weitere optimierende Verfahren angesprochen werden. Festzuhalten ist, dass weder Energieimporte/-exporte (in Form alternativ erzeugter Gase oder Flüssigkeiten) noch die Erzeugung von e-Fuels ausgeschlossen sind. Das Energiesystemmodell ist somit technologieoffen bzw. technologieneutral.

Bild 4 Elemente des Programms REMod und optimierende Verfahren (linker Bildteil)


Das wesentliche Optimierungskriterium des Simulationsprogramms (das zeitlich bis auf wenige Minuten auflösen kann und auch die klimatischen Randbedingungen saisonal und Tag/Nacht umfasst) ist die Erzielung möglichst niedriger Kosten (Optimierung „Referenz“) . Zusätzliche Randbedingungen wie „Beharrung“ (die Bevölkerung bleibt eher bei Verbrennungsmotoren und heizt weiter mit Gas und Öl), „Inakzeptanz“ (die Ausbaupotenzials für Windenergie werden reduziert, es findet geringerer Netzausbau statt), „Suffizienz“ (diesmal positiv: die Bevölkerung spart Energie in allen Sektoren, systemische Optimierungen wie Vehicle-to-Grid oder Wärmeverbundsysteme werden ausgebaut), erlauben den Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz und deren Folgen.

Für das Referenzszenario ergeben sich somit Ausbauerfordernisse für Wind- und Solarenergie wie in Bild 5 gezeigt.

Bild 5 Notwendiger Ausbau von Wind- und Solarenergie Modell "Referenz" (NEP = Netzentwicklungsplan)


Die Ziele der Bundesregierung für 2030 (80% des Stroms aus erneuerbaren Energien) und für 2045 (Klimaneutralität) scheinen somit realistisch zu sein. Ob aber der dafür notwendige Ausbau der alternativen Energien Schritt halten kann und ob die Industrie und die Bevölkerung tatsächlich auf effektivere Systeme (in der Regel elektrische) umsetzt, ist eine ganz andere Frage. So war zum Beispiel (Anmerkung des Autors) der „Windkraftausbau im Land im Jahr 2022 ein Nullsummenspiel trotz  schon zu Jahresbeginn 2022 beim Staatsministerium an oberster Stelle eingerichteter Task Force zum Abbau von Hindernissen bei den Genehmigungsverfahren. Das 2021 ausgegebene Ziel von 1000 neuen Windrädern bis zur nächsten Landtagswahl 2026 hatte Kretschmann da schon als unrealistisch kassiert und statt dessen 100 neue Windräder pro Jahr aufgerufen. Allerdings waren 2022 nur magere neun Anlagen errichtet worden oder in Betrieb gegangen- gleichzeitig wurden aber neun alte Anlagen abgeschaltet. Genehmigt wurden in Baden-Württemberg laut Bundesnetzagentur im Jahr 2022 nur 41 Windkraftanlagen. In Niedersachsen waren es hingegen 196 Räder, in Nordrhein-Westfalen 184“ (Artikel "Neue Hindernisse für die Windkraft", Südkurier, 5.6.2023).

Damit wollen wir uns in unserem Arbeitskreis demnächst befassen.


Findet diese Umsetzung nicht so statt wie im „Referenz“-Modell vorhergesehen sondern z.B. wie im „Beharrungs“-Modell, wird man einen größeren Anteil unserer Energie (dann alternativ erzeugt und importiert vielleicht von Australien, Namibia, Kanada, Nordafrika) aus dem Ausland importieren müssen mit allen zusätzlichen Folgen wie höheren Preisen und sicherheitspolitisch ungünstigeren Aspekten. Dies und die Reduktion fossiler Energie bis 2030 und deren komplettem Ersatz bis 2045 zeigt Bild 6. Im Fall der Beharrung müssten somit 2045 ca. 1000 TWh an synthetischen Energieträgern (also z.B. als Wasserstoff, Methan oder e-Fuel) importiert werden.

Bild 6 Ersatz fossiler Primärenergie bis 2045 durch alternative Energieformen (hohe Importe alternativ erzeugter Gase/Flüssigkeiten im Szenario „Beharrung“)


Mit zwei weiteren Folien schloss Herr Stryi-Hipp seinen Vortrag und beleuchtete damit, wo wir hin müssen. Bild 7 zeigt die Entwicklung bis 2045 diesmal für die Endenergie hinsichtlich verschiedener Energieträger. Eher unstrittig ist dabei die Nutzung von Strom bei PKW und Gebäuden, des Wasserstoffs in der Industrie, dem Flug- und Schiffsverkehr und nicht zu vergessen bei der Stromproduktion im Winter bzw. nachts, die Fernwärme und die Biomasse.

Bild 7 Endenergieformen und deren Nutzung bis 2045


Die darin als Konkurrenz von direkter und indirekter Elektrifizierung, sprich von den direkten Stromanwendungen und der Nutzung bspw. von Wasserstoff, angegebene Bandbreite ist schon jetzt ein Streitthema innerhalb der Ampelkoalition und wird auch weiterhin eins bleiben.


Das abschließende Bild 8 beleuchtet die CO2-Kosten pro Tonne, die uns laut REMod je nach Variante bevorstehen. Relativ preisgünstig wäre es, wenn die Bevölkerung mitmachen würde („Suffizienz“-Modell). Inwieweit sich die Kosten dann in den privaten Bereich verlagern, ist damit nicht festgestellt.

Bild 8 Kosten zur Erreichung der Ziele in €/Tonne CO2 im Vergleich zu Business as usual


In allen anderen Fällen belaufen sich die Kosten auf 270 bis 382 €/Tonne CO2. Dies dürfte vermutlich auch der Betrag sein, den wir innerhalb der nächsten 20 Jahre entweder bei der CO2-Besteuerung oder den Emissionszertifikaten erwarten können.

Auch dies will der Arbeitskreis „Energie“ der MIT Bodensee sich noch anschauen.


Als Fazit lässt sich sagen, dass eine Umstellung auf erneuerbare Energien unter Einhaltung der Klimaziele möglich erscheint. Allerdings braucht es einen erheblichen und noch zu leistenden Ausbau der erneuerbaren Energien bei gleichzeitig hoher Effizienz bei der Wandlung und Nutzung von Energie. Beides (Anmerkung des Autors) geht an den Geldbeutel – sowohl den staatlichen (also dem des Steuerzahlers) als auch dem privaten (für die Umstellung der Heizungen, in der Mobilität und im Gebrauch von Energie).


Wir danken Herrn Gerhard Stryi-Hipp für sein Engagement, das schöne Freiburg für einen Besuch am (noch schöneren) Bodensee für eine kurze Zeit aufgegeben und uns einen interessanten und lehrreichen Einblick in die Forschung zur zukünftigen Energiesituation gegeben zu haben.


Wer sich näher mit der zugehörigen Studie befassen möchte hier der Link
https://www.ise.fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/studien/wege-zu-einem-klimaneutralen-energiesystem.html


MIT Bodensee
Dr. Hartmut Kräwinkel, Kreisvorsitzender